Bergauf

 

        An der Schultür ziehen die Kinder ihre Mäntel an. Dann macht sich eins nach dem anderen auf seinen Weg: einige zum Auto der Eltern, die ältesten laufen durch die Straßen der Stadt nach Hause, die Erlebnisse des Wochenendes austauschend, scherzend, albernd. Iker richtet seine Schritte auf das Wartehäuschen. Die meisten Freunde gehen wie immer zu Fuß, aber heute lachen sie nicht über ihn, wie sie es tun, wenn seine Mutter ihn mit dem Auto abholen kommt. Sie sehen ihn anders an, denn endlich kann er einmal erhobenen Hauptes auftreten. Iker wird nämlich nicht von seiner Mutter erwartet. Iker wartet an der Bushalterstelle neben der Musikschule. Zum allerersten Mal wird er allein nach Hause fahren. Seine Mutter hat ihm ganz genau erklärt, was er tun muss, wo er auf den Bus warten muss, welche Farbe und Nummer die einzelnen Busse haben. «Pass auf, dass du nicht den falschen nimmst. Wenn du einen Bus verpasst, gibt es danach immer einen nächsten.» Er ist aufgeregt, die Mehrfachfahrkarte in der Hand, sorgsam darauf bedacht, dass er sie nicht knickt, sie nicht nass wird und der Wind sie nicht mit sich fortträgt. Als er in der Warteschlange an der Bude langsam immer weiter vorrückt, merkt Iker, dass er so etwas wie Lampenfieber hat.

        «Der Kleine kommt allein?»

        «Ja.»

        «So wichtig ist die Hochzeit des Russen? Du kennst ihn doch fast gar nicht.»

        «Er ist kein Russe, er ist Ukrainer.»

        «Es ist mir gleich, ob er aus der Ukraine oder aus Gizaburuaga kommt.»

        «Itziar heiratet und ich werde sie nicht versetzen. Wo ist eigentlich das Problem, dass sie mit Martin Schluss gemacht hat, oder das Valery Ukrainer ist? Oder vielleicht beides? Ein bisschen Machismo mit einem Schuss Rassismus.»

        «Komm, Nekane, lass den Unsinn. Mir ist es völlig egal, mit wem Itziar geht. Obwohl, der arme Martin ....»

        «Ob nun gut oder schlecht, Martin hat sich seinen Weg ausgesucht. Obwohl ihn die Situation bestimmt ziemlich fuchsen wird, bin ich sicher, dass er sie wesentlich besser versteht, als ihr. Ihr findet es besser, wie es mit Jasone aus Abusu gelaufen ist, nichtwahr? Der Armen lieber erst gar nichts sagen.»

        «Jasone hat wirklich schon genug Probleme im Knast, um dann auch noch von dieser Geschichte zu erfahren.»

        «Nun, Aitor habt ihr keine Vorhaltungen gemacht. Der Gute hatte eben andere Bedürfnisse ... Es ist echt nicht zu fassen!»

        «Wie du willst, meine Liebe. Du bist also nicht zurück, um den Jungen abzuholen?»

        «Und du, wirst du ihn vielleicht ein einziges Mal abholen?»

        Iker wurde nervös, denn in Momenten der Wut kommen Erwachsene zu unvorhersehbaren Übereinkünften. Trotzdem entschieden sie, dass er alt genug sei, alleine nach Hause zu fahren und erklärten ihm Schritt für Schritt die Feinheiten und Details der Busfahrt.

        Iker hat sich in dem Fernsprechladen der Afrikaner Süßigkeiten für die Fahrt gekauft und einen Platz zwischen den Leuten im Wartehäuschen gefunden. Er bemerkt, dass er nicht der Jüngste an der Haltestelle ist: Ein Mädchen, das in die Musikschule geht, hat sich auch im Wartehäuschen untergestellt. Er kennt sie kaum, sie heißt Vicky und er fand sie schon immer sehr schön. Ihre glatten, kastanienfarbenen Haare fallen offen über die Schuluniform und obwohl sie Mantel und Schal trägt, macht die Kälte das Blau ihres Blickes noch blauer. Iker starrt auf den Boden, als ob er sie nicht sähe, ohne den Kopf zu heben, aus Angst, das Mädchen könne ihn ansprechen. Er fühlt sich wohl in dieser verschämten Unbehaglichkeit, bei der Vorstellung, dass es Vicky ähnlich ergeht, schweigend. Mit dem kastillisch sprechenden Mädchen aus der Privatschule teilt er im Stillen ein kleines Geheimnis, das er seinen täglichen Freunden unmöglich erzählen kann.

        Doch bald kommt der Bus, ohne dass er ein Gespräch beginnen musste. Mit dem Mädchen steigen die meisten der Leute ein, die an der Haltestelle gewartet haben, und Iker folgt ihnen. Wie es ihm seine Mutter erklärt hat, steckt er die grüne Karte vorschriftsmäßig in den Automaten und steht im Bus. Er ist vollbesetzt, aber es gelingt ihm, einen Stehplatz am Fenster zu bekommen. Draußen Regen, Läden, Kneipen und vom Licht der Straßenlaternen gezeichnete Kreise. Drinnen dicht gedrängt stehende Menschen. Von Vicky keine Spur. Sie ist irgendwo im hinteren Teil des Fahrzeugs verschwunden, vielleicht hat sie einen Sitzplatz ergattert. Er entdeckt sie ein paar Reihen hinter einer Frau, die in einen dicken Mantel gehüllt ist. Als sich die Frau im Gespräch zu ihrer Sitznachbarin dreht, taucht sie auf. Sie hat den Schal abgenommen und durch den Temperaturunterschied haben sich ihre Wangen gerötet. Sie ist ein hübsches Mädchen, mit der Uniform dieser Schule, die von Nonnen geleitet wird und in der sie kastillisch sprechen. Als er sich bückt, um seinen Rucksack auf dem Boden abzustellen, sieht er unter ihrem Rock die weiße Haut. An einem Knie hat sie eine Narbe.

        Iker hat seine schwere Tasche zwischen den Beinen stehen. Im fällt ein, dass er nicht viel Hausaufgaben hat. Da Mutter nicht zu Hause ist und für das Abendessen Vater zuständig ist, hat er Zeit zum Fernsehen. Er überlegt, was Vicky wohl nach den Hausaufgaben tun wird. Da sie kastillisch spricht, hat sie sicher einen Bruder und vielleicht auch eine Schwester, aber einen Bruder ganz bestimmt und so können sie zusammen spielen, auch wenn sie dabei kastillisch sprechen, denn niemand wird ihnen sagen, dass sie nicht kastillisch sprechen sollen, weil sie ja schweigen müssten, wenn sie nicht kastillisch sprechen dürfen. Das ist wirklich der Vorteil der Familien, in denen kastillisch gesprochen wird, dass sie nie, oder nur ganz selten, Einzelkinder haben, denn Einzelkinder müssen nach den Hausaufgaben im baskischen Fernsehen Zeichentrickfilme ansehen, aber wenn sie kein Baskisch können, ist das ja völlig unsinnig, und wenn sie zwei, drei oder mehr Kinder haben, können sie miteinander rumtollen, ohne die Zeichentrickfilme zu sehen, und außerdem können sie kastillisch sprechen. Dann versuchte er sich Vickys Zimmer vorzustellen: Puppen, Spielzeug, die Farbe der Wand, den Schreibtisch ...

        Der Sitznachbar des Mädchens ist plötzlich aufgestanden, um an der nächsten Haltestelle auszusteigen, wie viele andere der Fahrgäste auch. Iker bleibt auf seinem Platz stehen, traut sich nicht, sich neben sie zu setzen. Was dann passiert, hat er nicht erwartet. Vicky steht auf und kommt auf Iker zu, zur Mitte des Busses. Schnell wendet er den Blick ab, schüchtern, spürt, wie sie immer näher kommt. Mit dem Rücken zu ihm bleibt sie ganz in seiner Nähe stehen. Sobald sie an der nächsten Haltestelle ankommen, geht die Tür auf und Vicky steigt aus. Aus dem großen Fenster des Fahrzeugs folgt Iker aufmerksam ihren Schritten durch ihm unbekannte Straßen, bis er sie aus den Augen verliert.

        Menschen steigen ein, Menschen steigen aus, der Bus setzt seine Fahrt von Haltestelle zu Haltestelle fort. Die Straßen, die sie durchqueren, kommen ihm fremd vor. Mit der Hand wischt er die beschlagene Scheibe ab und versucht einen Bezugspunkt zu finden, der ihm helfen könnte sich zu orientieren, in der Hoffnung auf eine Ecke, eine Straße, einen Park, den er kennt. Der Bus hält an Ampeln und weiteren Haltestellen; alle Orte scheinen ihm gleich, alle sind zu dunkel, alle gefährlich. Wenn wenigstens ein Bekannter einsteigen würde! So groß ist die Stadt doch auch nicht und seine Eltern treffen oft den einen oder anderen im Bus, mit dem sie sich unterhalten. Heute dagegen war alles fremd. Geknickt fährt er durch die Stadt. Mutter wird böse werden, denkt er, denn sie hat ihm genau erklärt, er solle aufpassen, die Namen der Haltestellen lesen, und dass er den Knopf drücken und aussteigen solle, wenn der Bus in der Nähe ihrer Wohnung käme.

        Da sieht er die Anzeige über dem Fahrer. Er war in den falschen Bus gestiegen. Der Bus ist rot, wie die Mutter gesagt hatte, aber die Nummer und die Endhaltestelle stimmen nicht mit dem überein, was sie ihm ein ums andere Mal wiederholt hatte. Wohin fuhr er jetzt? In welcher Gegend der Stadt war er? Iker war zum Weinen zumute, obwohl er sich dessen auch schämte, sich genierte, jemanden zu fragen. Er war kurz vor davor, in Tränen auszubrechen, schutzlos, verfluchte die anderen Fahrgäste. Hilft mir den niemand? Merkt denn niemand, dass in diesem Bus ein kleiner Junge sitzt, der nicht weiß, wo er ist?

        An der nächsten Haltestelle geht er zu den vorderen Sitzen. Nicht weiter, muss er dem Fahrer sagen, und dass er sich geirrt hat. Er trifft seinen Blick nicht. Der Fahrer schaut in den linken Spiegel, bereit, erneut loszufahren. Iker bringt keinen Ton heraus. Und der Bus wird immer leerer, die Straßen immer enger. Die Straße eines Viertels der Stadt bergauf, bis wohin geht das noch so weiter? Mit jeder Haltestelle wird sein Irrtum ein Stück größer.

        Rechtzeitig unterdrückt er eine Träne, die im Augenwinkel zum Vorschein kommt. Schließlich nimmt die Zerknirschtheit Oberhand, zusammen mit großer Wut. Noch dazu kann er niemandem die Schuld geben. Wenn ich nur richtig auf die Nummer geachtet hätte, wie es Mutter gesagt hat! Ich bin einfach hinter Vicky eingestiegen und fertig, ein schöner Trottel! Was mache ich jetzt? Wenn ich dem Fahrer sage, er soll auf der Stelle anhalten, wohin gehe ich dann? Wie soll ich Vater mitteilen, dass ich falsch gefahren bin und er schnell kommen soll?

        Der Bus kommt zu der offensichtlich letzten Haltestelle und schnell steigt eine schlanke, große Frau aus, der letzte Fahrgast.

        «Wir sind da, Junge!», ruft ihm der Fahrer zu.

        Wo bin ich? Muss ich ganz alleine hier bleiben? Ich muss auf der Straße schlafen! Aber wenn es nicht aufhört zu regnen?

        «Stimmt was nicht mit dir?»

        Er hält es nicht mehr länger aus. Er fängt an zu weinen.

        «Jetzt beruhige dich erstmal, mein Junge! Komm, erzähl mal, wo sind deine Eltern? Du brauchst nicht mehr zu weinen, das bekommen wir schon wieder hin.»

        Schluchzend erzählt er, dass Mutter ihm gesagt hat, er solle mit dem Bus fahren, welche Farbe, welche Nummer und welche Endhaltestelle er habe, dass er dann aber in den falschen gestiegen sei.

        «Da bist du wirklich recht weit weg, Bürschchen.»

        Neue Fahrgäste steigen in den Bus.

        «Hat jemand ein Handy, um die Eltern des Jungen anzurufen?»

        Eine junge schwarze Frau holt ein Telefon aus ihrer rosa Tasche und fragt Iker nach der Telefonnummer seiner Eltern. Statt sich die Nase zu putzen schluckt er kräftig und nennt eine Ziffer nach der anderen.

        «Papa!», ruft der Junge, weiter kommt er vor lauter Aufregung nicht.

        Der Fahrer nimmt das Telefon der jungen Frau und erklärt, dass sie in einer halben Stunde an der Haltestelle am Rathaus sein werden.

        Iker ist beruhigt, wohlgemut fährt er jetzt im Bus, neben der jungen schwarzen Frau.

        «Ich heiße Barbara. In meinem Land ist es nicht so kalt und Weihnachten gehen wir an den Strand. Nicht immer, denn viele Jungen deines Alters arbeiten dort, sie machen so schöne Schuhe, wie du sie trägst. Du lerne viel, lese viel, dann wirst du ein bedeutender Mann. Du hast großes Glück.»

        Barbara erscheint ihm sehr schön und liebenswert, mit ihren vollen Lippen.

 

 

© Urtzi Urrutikoetxea
© Übersetzung aus dem Baskischen: Gabriele Schwab


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