Der erste Kaffee

 

 

        Maria Antonia fängt um vier Uhr an zu arbeiten, wenn es noch dunkel ist. Gegen fünf sind die Snacks der Cafeteria fertig und liegen zusammen mit den Stückchen und Croissants, die Manuel in Lezama geholt hat, verlockend auf dem Tresen. Und die Kaffeemaschine ist bereit, den ganzen Morgen auf Hochtouren zu laufen.

        Am Anfang fiel es ihr nicht leicht, die Maschine in den Griff zu bekommen. Sie bereitete ihr einiges Kopfzerbrechen. Bevor sie irgendwem einen Kaffee servierte, probierte sie ihn selbst, für alle Fälle. Am Ende des Tages war sie dann stets mit den Nerven am Ende und ernsthaft besorgt, bis sie schließlich die Geheimnisse der Maschine begriff. Heute birgt die Kiste kaum noch Rätsel für Maria Antonia, auch wenn sie jetzt keinen Kaffee mehr trinkt. Schwarzer, Lindenblüten- und Kamilletee gelingen ihr genauso gut wie die Kaffees.

        Die Lösung dieses Problems, das so sehr an ihr genagt hatte, verdankt sie Trini. Damals gerieten sie ihr zwar schon viel besser als zu Anfang, aber Trini wusste viel über Kaffee. Und einmal riet sie ihr:

        «Du machst ihn inzwischen stärker, aber er ist immer noch ziemlich dünn. Und wenn du ihn richtig kräftig machst, dann schmeckt er bitter. Hast du es mal mit dem Kaffee aus dem Dorf probiert?»

        Genau das sagte sie, Kaffee aus dem Dorf, mit ihrem Badajozer Akzent. Natürlich handelte es sich nicht um Kaffee aus Extremadura, sondern um den gerösteten Kaffee, den sie nach dem Krieg aus Portugal herüberschmuggelten, der in den Kolonien in Afrika geerntet und ungemahlen als Bohnen verpackt wurde. Es war ein starker Kaffee, und wenn irgendein Verwandter ins Dorf fuhr, brachte er ihn kiloweise mit, als sei er ein wertvoller Schatz. So führte Trini auch Maria Antonia in diesen Schwarzmarkt ein.

        Die Fabriken von Bolueta, Etxebarri und der Umgebung schulden der Bar Toñi viel. Die meisten bestellen ihn mit «ein paar Tränen», diesem kleinen Schuss, der auf sie aufputschender — und süßer — wirkt als Zucker, um dann die obligatorischen Arbeitsstunden, die bezahlten oder unbezahlten abzuleisten.

        «Toñi, machst du mal für in fünf Minuten ein paar heiße Porras [1] fertig?» Die Gäste kommen mit knapp bemessener Zeit, aber verlässlich jeden Tag.

        Nicht selten fühlt sie sich wie ihrer aller Ehefrau oder Mutter, wenn sie diesem Trupp Arbeiter, an denen immer noch die Wärme des Bettes haftet, das Frühstück zubereitet. Ohne Pause schwenkt sie in der Pfanne Churros [2] und Porras. Diesen Ölgeruch, der sich morgens an ihr festsetzt, wird sie dann den ganzen Tag nicht mehr los. Sie hatte keine Gelegenheit gehabt, von Prinzessinnen zu träumen, zu knapp war in ihrer Kindheit die Zeit zum Phantasieren. Und trotzdem, jene wenigen Gedankenspiele hatten nie nach Teig und altem Öl gerochen. Im Dorf hatte sie gelernt, Churros zu machen, als sie zum ersten Mal im Sommer dorthin zurückkehrten. Mit dem ersten bisschen Ersparten des Wohlstands verbrachten sie Ende der 60er Jahre die Sommerferien im Heimatdorf in der Mancha. Nicht dass Toñi davon besonders begeistert gewesen wäre, hatte sie doch damals gerade begonnen, mit den Freundinnen auf Feste, ins Kino oder an den Strand zu gehen. Trotzdem freute sie sich, mal von zu Hause wegzukommen, auch wenn es das entfernte und unbekannte Ciudad Real war. Sie war als Kind nach Biskaya gekommen und mit jener fernen Hochebene verband sie kaum mehr als einige wenige blasse Erinnerungen, vermischt mit dem, was zuhause erzählt wurde. Sollte sie jemals den Akzent der Eltern gehabt haben, so hatte Maria Antonia ihn sich schnell abgewöhnt. Er war das Überbleibsel einer fernen und ärmlichen Vergangenheit, neben dem vielleicht derben, aber doch auf jeden Fall urbaneren und moderneren Kastillisch Bilbos.

        Die Jungen, die sie beim samstäglichen Tanz kennen lernte, standen weit hinter ihren gewagten Gesten und ihrer Kühnheit zurück. In jenem Sommer schmiedete die Not die Clique der drei oder vier gleichaltrigen Mädchen zusammen. Nur eine von ihnen war aus dem Dorf, die beiden anderen aus Madrid und Barakaldo, wie Maria Antonia. Doch auch wenn es eine Notgemeinschaft war, zogen die neuen Freundinnen vergnügt auf die Feste der umliegenden Dörfer. Und dort lernte sie Manuel kennen. Er war einer der wenigen jungen Männer, die im Dorf geblieben waren, und obwohl sie die Armut seiner Familie zunächst abstieß, konnte sie letztlich Manus Charme nicht widerstehen. Kaum Arbeit, leere Taschen, ständig die Guardia Civil auf dem Hals, und trotzdem verlor er weder sein Lächeln noch verpasste er die geringste Gelegenheit, einem der Mädchen gegenüber ein paar verschmitzte Bemerkungen loszulassen. Inmitten des heißen Flachlands der Mancha strahlte Manuel Vorstellungskraft und Scharfsinn aus, wie sie sie in dem regnerischen Norden selten erlebt hatte. In jenem Alter war es ziemlich normal, mit dem in der Stadt erworbenen, bescheidenen Wohlstand zu protzen und ihn den stümperhaften Dorfbewohnern vorzuführen, aber dieser Bursche hatte wenig Komplexe. Viel weniger auf jeden Fall als jene Vertriebenen, die nicht wussten, ob sie im Dorf zu Besuch oder zu Hause waren. Nach dem ersten Lächeln und Geplänkel merkte Antonia sehr schnell, wie unersättlich sie sein konnte. Sie war gern mit Manuel zusammen, liebte die Natürlichkeit dieses wilden Wesens. Die Beklemmungen Bilbos vergessend, ließ sie seine nächtlichen Küsse im Weizenfeld zu, während sie ihm, in Schweiß gebadet, das Hemd auszog. Auch Vaters Ohrfeige, weil sie erst nach Mitternacht heimkam, konnte das Feuer im Herzen des Aschenbrödels nicht ersticken. Sie lief direkt in ihr Zimmer, um die Ähren unter dem Rock auszuschütteln, bevor sie zu Bett ging.

        Diese Unbekümmertheit, jeden Moment zu leben, hatte am Ende der Ferien dicke Tränen zur Folge und eine stille und traurige Heimfahrt. Bald jedoch kam der erste Brief, der sie überglücklich machte: Manuel würde seinen Militärdienst in Gasteiz ableisten. Nach der Hitze des Sommers eröffnete sich der Weg zu einer ernsthaften Beziehung, und mit der Zeit billigten die Eltern des Mädchens den Jungen aus dem Dorf.

        Nach dem Militärdienst wohnte er zunächst in der Wohnung eines Cousins, in Errekalde. Jeden Tag nahm er den O-Bus Nummer 4 Recaldeberri-Castaños, dann von der Gordoniz-Brücke zum Arenal und von dort mit dem Zug aus Atxuri zur Gießerei nach Bolueta. Der hohe Schornstein aus rotem Backstein war ihm schon am ersten Tag aufgefallen, als er, dank Toñis Vater, seine Stelle antrat. Öfen, wie er sie noch nie gesehen hatte, zum Schmelzen, Bearbeiten, Formen ... Als Manuel anfing produzierten sie nur Walzzylinder, obwohl sich noch viele an die Zeiten erinnerten, als sie Kanaldeckel und Räder für Wagons fertigten.

        In der Fabrik war Manuel ein schweigsamer Mann, der nichts mehr mit dem geistreichen Jungen aus der Mancha zu tun hatte. Doch niemand konnte ihm Faulheit vorwerfen. Schwerer fiel es ihm dagegen, sich an den Veranstaltungen der Fabrik zu beteiligen. Während der Holzhackerwettbewerbe oder der Boxkämpfe, die anlässlich des Santa Ana[3]-Festes veranstaltet wurden, flohen seine Gedanken ins Dorf, zu den kommenden Sommerferien.

        Zwei Jahre später heirateten sie, mit einem Hauch von Krise, aber ohne zu ahnen, was kommen sollte. Zwanzig Jahre arbeitete er in der Fabrik, nach den Überschwemmungen von 1983 begann er, die schwarze Zukunft zu erahnen. Als erstes kam die Pensionierung seines Schwiegervaters und anderer Bekannter. Manuel wusste, dass er der nächste sein würde. Sobald sie ihm die Gelegenheit dazu gaben, verließ er die Fabrik, wie er sie betreten hatte, ohne jegliches Aufsehen.

        Mit der Abfindung konnten sie die Cafeteria übernehmen. Seine Frau war es, die darauf beharrte, denn Manuel war eher erschrocken angesichts der vielen Arbeiter, die eine Bar aufmachten. In der Tat haben seitdem viele wieder geschlossen, aber bei all dem Schweiß, den es sie gekostet hatte, würden sie schon noch ein paar Jahre durchhalten.

        «Toñi, was macht das, die Kaffees und die Porras?», ruft Anton aus Arbolantxa.

        Es kommen immer die gleichen Gäste: die ehemaligen Kollegen von Manuel, die Arbeiter aus den umliegenden Druckereien und anderen Firmen und der vom Fahrkartenschalter im Bahnhof. Manchmal auch der eine oder andere Ausfahrer, wie der, der immer einen Milchkaffee bestellt. Ein seltsamer Typ, hat den Wagen voller Zeitungen, die frisch aus der Druckerpresse kommen, und verzieht sich in eine Ecke der Theke, um die Nachrichten über das gestrige Spiel zu lesen.

        Maria Antonia versteht jetzt die Ängste ihres Mannes. Sie werden noch zwei, drei Jahre mit der Cafeteria weitermachen. Dann, gehen sie mit dem Ersparten zurück ins Dorf. Manu wollte zurückkehren, als er die Arbeit verlor, glaubte, er fände etwas, wenn nicht direkt im Dorf, dann in der Raffinerie von Puertollano oder in Ciudad Real. Aber ihr Sohn Manu stand damals kurz vor dem Gymnasium und Miren und Aitor waren sogar noch jünger.

        Heute weiß sie, dass sie alleine nach Ciudad Real zurückkehren werden. Anders als vor Jahren erschreckt dieser Gedanke Maria Antonia jetzt nicht mehr, sie liebt ihren Mann und glaubt, dass sie ihm das schuldig ist. Seit ihr Sohn Manu letztes Jahr geheiratet hat, scheint er ihr ruhiger, steckt nicht mehr in den Politikgeschichten seiner Jugendzeit. Wenn Miren einen netten Mann finden würde, dann hätten sie wenigstens eine Entschuldigung, um aus dem Dorf zur Hochzeitsfeier zurückzukommen! Aber nachdem sie das Studium aufgegeben hat und Tag für Tag mit ihrer Mutter arbeitet, wen soll sie da schon kennen lernen, außer den ewigen Arbeitern und Ausfahrern? Aitor macht ihr wirklich Freude. Der Jüngste der Familie kommt an der Universität gut zurecht und geht vielleicht im nächsten Semester nach England.

        «Da ist er ja, der alte Manuel!», begrüßen die letzten Arbeiter der Gießerei den Ehemann, der gerade hereinkommt.

        Auch sie erleben jetzt die letzten Züge der Fabrik. Gerade noch haben sie eine Schmelze gegossen und bald werden sie alles schließen, um Wohnungen zu bauen. Die meisten von ihnen werden in Basauri bleiben, einige müssen nach Reinosa gehen und die Glücklichsten von allen werden Frührentner. Manuel kehrt zu seinen ehemaligen Kollegen zurück, nachdem er Stückchen und Süßes im Lager verstaut hat. Ihr einziges Gesprächsthema ist die Arbeit, und montags, das Spiel des Athletic-Clubs.

        «Jetzt sei doch nicht so ein Dickschädel, Jesus. Strafstoß oder nicht, das einzige, was einen wundern kann, ist dass da gestern nicht ein halbes Dutzend ins Tor gingen. Die scheren sich doch einen Dreck um die Ehre unseres Trikots, des Vereins oder den baskischen Nachwuchs und das ganze Zeug! Elf steinreiche Memmen sind das, sonst nichts!»

        Es belustigte sie, diesen vom Asphalt praktisch unberührt gebliebenen Mann aus der Mancha derart hitzig die rot-weiße Tradition verteidigen zu hören. Was Santa Ana entfremdet, integriert San Mames [4]. Die einzigen baskischen Worte aita, ama, agur, aizkolari, karramarro, zorionak, gorri, baltz, eskilarapeko, berezi, buruhandi... hatte sie mit diesen Einwanderern von Begoña und aus anderen Teilen Biskayas gelernt, wenn sie in der Fabrik und außerhalb zusammenkamen, um Fußball zu sehen.

        Lächelnd räumt sie die letzten Churro-Teller zusammen und stellt sie ins Spülbecken, während die Männer sich auf dem Weg zur Arbeit voneinander verabschieden. Die Cafeteria ist fast leer. Maria Antonia wischt mit dem Tuch über den Tresen, wäscht sich die Hände und fährt sich durch die Haare. Wenn sie mal Zeit hat, muss sie unbedingt einen Termin beim Frisör ausmachen, bei ihren schwarzen Haaren fallen die grauen besonders auf.

        Ihre Tochter ist gekommen und Toñi ruht sich aus. Wenn Trini kommt, werden die beiden ein bisschen laufen. Das soll gut gegen Krampfadern sein.

 

[1] Anm.d.Ü.: Längliches Gebäck aus in Fett ausgebackenem Brandteig

 

[2] Anm.d.Ü.: Ähnliches Gebäck wie porras, jedoch dünner und gebogen

 

[3] Anm.d.Ü.: Die Gießerei Santa Ana de Bolueta war die erste industrielle Fabrik des Baskenlandes (1841)

 

[4] Anm.d.Ü. Das Fußballstadion von Athletic Bilbao.

 

 

© Urtzi Urrutikoetxea
© Übersetzung aus dem Baskischen: Gabriele Schwab


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