Der war's

(Hura izan da)

 

Als er im Krankenhaus ankam, wartete seine Frau dort mit hängendem Kopf.

        — Geht's dir gut?

        Die Frau gibt einen Laut von sich, vielleicht um seine Frage zu bejahen.

        Der Mann geht ins Sprechzimmer, um allein mit dem Arzt zu reden. Der Arzt scheint besorgt. Monate werde seine Frau brauchen, um sich davon zu erholen, gibt er ihm zu verstehen.

        — Sie hat heftige Schläge abbekommen. Sie sollten mit der Polizei reden.

        Der Mann kehrt an die Seite seiner Frau zurück. Ihr leichenblasses Gesicht erschreckt ihn. Sie ist immer stark gewesen, denkt er, aber so etwas steckt keiner so einfach weg.

        Jetzt ausgerechnet muss das passieren, wo er gerade in Rente gegangen war, nach so vielen Jahren, die er an einen Bürostuhl gefesselt in der Abegi AG verbracht hatte. Was für ein Kopfzerbrechen, welch Knochenarbeit war das gewesen, um in Donostia ein bescheidenes Leben führen zu können. Sie hatten sich ausgemalt, nach der Verrentung den ganzen Tag nur für sich selbst Zeit zu haben. Der Mann hat genug damit zu tun, seine Rückenschmerzen zu lindern und sich nicht zu sehr aufzuregen. Manchmal kann er nicht einmal aus dem Bett aufstehen. Von klein auf hat er einen schwächlichen Körper. Zum Glück steht ihm schon seit seiner Jugend eine Frau zur Seite, die ihm bei allem eine Hilfe ist. Seine Frau ist nie krank gewesen, manchmal hat sie zwischendurch ein paar traurige Tage. Nur wenn sie sich beide schwach fühlen, gibt es schwierige Momente. Sie haben niemanden, der ihnen hilft, und früher oder später würde das für sie beide zum Problem werden.

        Schwerfällig schleppt sich seine Frau durch den Klinikgang. Noch nie hat er sie derart niedergeschlagen gesehen.

        Welches Miststück kann einer älteren Frau so etwas antun? Hass, denkt der Mann, das ist es, was ein starkes und unvermutetes Tier in einer einzigen Sekunde in einen Riesen verwandelt.

        Als sie in den Wagen steigen, ist der Mann kurz davor, um Entschuldigung zu bitten. Aber er weiß nicht, wofür. Und er schweigt, starrt in die Nacht. Draußen wird es immer kälter.

        Weiter unten in der Straße sind in dem stillen Donostia die Lichter der Straßenlaternen zu sehen. In den meisten Familien ist Heiligabend. Bei ihnen nicht. Jedes Jahr bereiten sie ein normales Wochenendessen vor, mit ein paar zusätzlichen Kleinigkeiten. Seit langem haben sie dieses Gefühl des Drucks verloren, sich den Standardregeln anpassen zu müssen. Sie haben niemanden, dem sie solche Anstrengungen widmen könnten. Die Eltern seiner Frau waren in den Achtzigern gestorben und ihre Schwester hatte nach Deutschland geheiratet. Sie hatten keine Kinder gewollt und die einzigen Angehörigen, zu denen sie noch ein engeres Verhältnis haben, sind der Bruder des Ehemannes und dessen Frau. Sie leben in Durango und verbringen alljährlich Heiligabend bei der Familie der Frau, Silvester kommen sie dann nach Donostia und bleiben zwei Tage bei ihnen. Der Mann ist sehr glücklich darüber, ein gutes Verhältnis zu seinem Bruder zu haben. Auch dabei hat ihm seine Frau geholfen. Wenn ich sie nicht an meiner Seite gehabt hätte, denkt der Mann, wäre es mit mir aus gewesen.

        Er hat den Wagen angelassen. Es fällt ihm schwer, vor dem Losfahren zur Seite zu sehen. Er spürt, wie seine Frau in die Leere hinter dem Fenster starrt. Es ist ihm bewusst, dass ihre Gespräche von nun an ganz anders sein würden. Seit sie sich kennen, haben sie stets über alles mögliche gesprochen. Über Immigranten, zum Beispiel. Ausländer hatten seiner Frau stets Misstrauen eingeflößt. Ich kenne nur Galizier, hatte der Mann einmal geantwortet. Ich glaube, unter den Immigranten gibt es alles Mögliche, wie unter uns auch. Wir betrachten hier die Neuankömmlinge wie Straßenköder und eigentlich denke ich, sie sind viel zu harmlos. Wenn man uns so behandeln würde, wer weiß, zu welchen hundserbärmlichen Dingen wir fähig wären. Seine Frau dachte an ihre Schwester und akzeptierte seine Meinung, aber dann verhielt sie sich doch oft so, als glaube sie es nicht so recht.

        Der Mann denkt, dass sie dieses Thema wohl nie wieder anschneiden werden.

 

 

Alles war auf dem Katalonienplatz im Stadtteil Gros passiert, gegen fünf Uhr nachmittags, es hatte nicht länger als eine halbe Minute gedauert.

        Wir sind allein auf der Welt, denkt der Mann. Er versteht nicht, wieso sich niemand verantwortlich gefühlt hatte, ihr zu helfen. Auch das Verhalten des Angreifers kann er einfach nicht begreifen. Noch im gleichen Moment, als er die Handtasche forderte, hatte seine Frau sie ihm gegeben. Und trotzdem hatte der junge Mann ein ums andere Mal auf sie eingeschlagen. Nicht einmal die schlimmsten Lebensverhältnisse sind eine Entschuldigung für solche Gewalt, denkt er.

        Gern würde er jetzt mit seiner Frau zu Abend essen und alles vergessen.

        — Ich hatte das Abendessen schon fertig, als sie mich von der Klinik anriefen. Du weißt ja, wie jedes Jahr, was ganz Gewöhnliches. Naja, aus dem Fisch hab ich versucht etwas Besonderes zu machen.

        Die Frau bewegt die Lippen, fast unmerklich.

        Er fühlt die Ohnmacht und Demütigung seiner Frau, als sei es seine eigene.

        Auf der Uferstraße müssen sie an der Ampel bei der Mundaiz-Brücke halten.

        Plötzlich wird seine Frau unruhig.

        Die Ampel schaltet auf grün und der Mann setzt den Wagen in Bewegung.

        — Bleib stehen! —schreit die Frau—. Der war's! Halt an!

        — Was?

        Mit der Linken zieht die Frau mit aller Kraft die Handbremse. Ruckartig bleibt der Wagen stehen. Der Mann schlägt mit dem Kopf auf das Lenkrad. Sofort geht sein Blick zum Rückspiegel: hinter ihnen ist kein Auto. Es ist 24. Dezember und Abendessenszeit.

        — Der hat es getan! Der da!

        Die Frau versucht die Tür zu öffnen, ein Bein eingegipst und den rechten Arm in einem Tuch, das ihr um den Hals hängt.

        — Du bleibst hier. Ich gehe.

        Sobald der Mann aussteigt, sieht er wie der junge Mann, der neben dem Wagen gestanden hatte, blitzschnell davonläuft. Obwohl er ihm hinterher rennt, ist der andere zu schnell für ihn. Er blickt zum Auto. Seine Frau starrt ins Leere. Er setzt seine Suche fort, denkt, dass er es ihr schuldig ist.

        Er hat ihn nicht finden können. Schweigend setzt er sich ins Auto und fährt los.

        Nach hundert Metern, gerade als der Mann anfängt über den Knoten nachzudenken, den er in seinem Bauch spürt, rutscht seine Frau erneut nervös hin und her.

        — Da, da ist er!

        Ohne auf den Verkehr zu achten, stürzt der Mann aus dem Auto. Der Jugendliche, den sie in der Nähe des Autos gesehen hatten, verschwindet um die Straßenecke. Sobald er losläuft, wird dem Mann seine körperliche Schwäche bewusst. Er rennt fast atemlos, sein Herz ist kurz davor zu zerspringen und die Vorstellung grämt ihn, dass der Junge ihm erneut entwischen könne. Doch umgehend findet er ihn, ein Schaufenster betrachtend.

        — Unschuldig tun, was? Vorhin bist du mir entwischt, aber jetzt kommst du nicht weit.

        Der junge Mann legt seine Stirn in Falten und geht in die andere Richtung weiter.

        Sein schwächlicher Körper fällt ihm wieder ein und hastig greift der Mann zu einer Stange, die er im Abfall entdeckt. Eine massive Stange. Jetzt fühlt er sich sicherer. Es schießt ihm durch den Kopf, dass der junge Mann ihm inzwischen entwischt sein könne und völlig außer sich beginnt er zu laufen. Auf der Höhe des Zebrastreifens erreicht er den Jugendlichen.

        — Warum hast du das getan?

        Von was er rede, fragt der Junge. Er stellt die Frage erneut auf kastillisch, aber der Jugendliche scheint auch jetzt nicht zu versehen. Der Mann blickt auf die Stange in seiner Hand. Der Jugendliche scheint schmal und schwächlich. Er erinnert sich, dass er in seiner Jugend genauso gewesen war und noch dazu ohne jeden Mut.

        — Warum hast du das getan? —fragt er auf kastillisch.

        Der Jugendliche setzt ein missmutiges Gesicht auf.

        Aus Hass hat er es getan, denkt der Mann. Wer weiß, wo dieser Hass herkam. Aber es war Hass. Mindestens so groß, wie der, den ich jetzt spüre. Er hat meine Frau niedergeschlagen.

        — Und, bist du jetzt zufrieden? —Zwei Mal wiederholt er diese Frage.

        — Hau ab nach Hause, du durchgeknallter Alter! —schreit der Junge auf kastillisch.

        Wir werden alt und grau, ja, aber um abzurechnen reicht es noch, denkt der Mann.

        Der Jugendliche beginnt, in einer ihm unbekannten Sprache auf ihn einzureden. Er macht aufgebrachte Gesten und scheint immer wütender zu werden. Das reizt den Mann noch mehr, und zu seinem eigenen Erstaunen und wie von jemand anderem geführt, schlägt er den Jungen mit der Stange auf den Kopf. Er hört seine Schreie. Aber der Mann schlägt weiter, prügelt den gesamten Körper. Er spürt, dass es nichts gibt, was ihn zurückhalten könnte. Als er merkt, dass der Junge das Bewusstsein verloren hat, wirft er einen letzten Blick auf die in Stücke zerschlagende Stange, den blutbespritzt daliegenden Körper und wendet sich ab.

        Während er zum Auto zurückkehrt, fühlt er sich erstmals seit langem stark. Aufgabe erfüllt.

        Er setzt sich auf den Fahrersitz und sieht seiner Frau ins Gesicht:

        — Was zu tun war, ist getan. Jetzt fahren wir nach Hause. Eine gründliche Dusche und dann, wenn du willst, essen wir den Fisch. Und wenn nicht, dann eben kuschelig ins Bett.

        Seine Frau schweigt.

 

 

Im Licht der Laternen fahren sie weiter die Straße entlang.

        Als sie am Pinares-Platz im Stadtteil Gros ankommen, wird seine Frau unruhig:

        — Halt an! Der da war's! Halt an!

        Da sitzt ein Jugendlicher an der Bushaltestelle, raucht eine Zigarette.

        Er schaltet einen Gang runter.

        — Was?

        — Der da war's!

        — Wie soll der es denn sein? Wir haben den anderen vor drei Minuten in Amara zurückgelassen. Er kann unmöglich schneller sein, als ein Auto. Und außerdem wird es nicht so einfach sein, ihn zum Aufstehen zu bringen.

        Seine Frau schweigt.

        Der Mann fährt weiter, langsam, traut sich nicht, zur Seite zu schauen.

        Kein einziges Auto fährt auf den Straßen Mirakruz und Ategorrieta. Sie sind allein.

        Als sie unter der Eisenbahnbrücke Jai Alai durchfahren, sieht seine Frau einen Jugendlichen die Straße hinunter laufen und beginnt gegen die Scheibe zu schlagen und zu schreien.

        — Der da war's! Halt an!

        Er hält nicht an, er schaltet auch nicht runter. Er fährt weiter auf der einsamen Straße.

        Der Mann weiß, dass er die Worte seiner Frau noch mehr als einmal wird hören müssen, bevor sie zu Hause ankommen.

        Erneut erinnert er sich daran, wie schwach und ängstlich er als Kind war. Und ihm ist zum Weinen.

 

 

© Harkaitz Zubiri
© Übersetzung aus dem Baskischen: Gabriele Schwab


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