Der schüchterne Argentinier

(Argentinar lotsatia)

 

Er kam nie in die Wohnung hoch. Wenn er unten auf die Klingel drückte, sah Mutter mich an wie ein Zicklein auf dem Weg zum Schlachthof und fuhr mir noch einmal mit dem Kamm durchs Haar, un dernier coup de peigne, als ob sie dabei dachte, dass sich dieses letzte Kämmen nicht lohnte.

        In ihren Augen las ich etwas, was ich nicht richtig verstand. Einige Jahre später wurde mir die Bedeutung dieses Blicks klar, ungefähr wenigstens: «Wozu jemanden kämmen, der auf dem Weg ins Zentrum eines Orkans ist?»

        Ich rannte die Treppe hinunter. Bevor ich die Eingangshalle erreichte, löste ich den Gürtel und zog die Hosen nach unten, um die verhassten Strümpfe mit dem Rautenmuster zu verdecken. Und da stand er.

        Oft habe ich mich gefragt, wie es möglich war, dass Vater immer diesen kratzigen Drei-oder-vier-Tage-Bart hatte, niemals einen längeren Bart und auch niemals einen weichen, frisch parfümierten und zurechtgemachten Bart. Als ob seine Bartstoppeln bis zu diesem Punkt sprossen und dann nicht weiter wuchsen. Ich gelangte zu dem Schluss, dass es eine Folge der Aufmerksamkeit war, die er seinem Gesicht widmete, dass sein Bart immer so aussah, aber es war schon verwunderlich. Diese vermeintliche Sorge um sein Aussehen stimmte so gar nicht mit seinem zerfransten Wollpullover, seiner Nachlässigkeit und seiner gleichzeitigen Flegelhaftigkeit überein.

        Ich wusste nicht, was er arbeitete. Mir war nie klar, ob das, was er mir erzählte der Wahrheit entsprach oder nicht.

        Einmal hatte er mit einem Pariser Brillenhersteller zu tun und hoffte, eine Erfindung zu machen, die er Lupen-Glas nannte, und damit reich zu werden. Er war völlig besessen von seinem Einfall. Während dieser Zeit gab es für ihn kein anderes Thema. Es war natürlich eine absurde Idee: Er wollte Gläser aus vergrößerndem Material herstellen, der Wein in diesen Gläsern —oder was auch immer man hineintat— sollte nach mehr aussehen, als eingefüllt worden war, ich weiß nicht genau warum. Wohl war es seine Absicht, dass die, die Alkohol tranken weniger davon zu sich nahmen und dabei dachten, es sei die gleiche Flüssigkeitsmenge wie früher, aber ich habe nie herausbekommen, ob das letztlich hinter dieser Errungenschaft steckende Ziel nun die Sorge um die Gesundheit maßloser Trinker oder ein rücksichtsloser geschäftlicher Beweggrund war —weniger servieren, das gleiche kassieren.

        Ein anderes Mal hatte er, wie es schien, morgens um sechs die Stadt von einer Seite zur anderen mit dem Motorrad durchquert und dabei sämtliche Pariser arrondissements eines nach dem anderen abgefahren; an dem knatternden Motorrad hing ein manipuliertes Auspuffrohr, um möglichst viel Lärm zu machen. Das alles nicht etwa aus Hobby oder um irgendwen zu ärgern, sondern weil er für eine Statistik arbeitete. Und dafür haben sie mich auch noch bezahlt, fügte er später lachend hinzu.

        Offenbar war diese Motorradfahrt ein Auftrag der Stadtverwaltung, im Zusammenhang mit einer Untersuchung der Verkehrsabteilung über städtischen Lärm.

        Hinter mir fuhren vier Lackaffen in einem Auto, jeder mit seinem Notizbuch, und in allen Straßen, durch die ich fuhr, beobachteten sie die Fenster: stell dir vor, die mussten zählen, wie viele Lichter angingen und wie viele Leute ich aufweckte.

        Dann lachte er, ha-ha-ha.

        Auch an diesem Tag kämmte mich Mutter widerwillig und wie immer spurtete ich hinunter zur Haustür. Als Vater hochblickte, spürte ich, wie Mutter besorgt zwischen den Vorhängen hindurchspähte. Ich stellte mir vier in einem Peugeot verborgene Männer vor, Hut auf dem Kopf und jeder sein Notizbuch in der Hand, die für die Stadtverwaltung eine statistische Untersuchung über die Sorgen Pariser Mütter machten und dafür bezahlt wurden, die besorgten Mütter hinter den Vorhängen an den Fenstern zu entdecken und für jede beunruhigte Mutter ein Kreuz in ihren Heften zu machen.

        Diesen Tag werde ich nie vergessen.

        Vater erzählte etwas von der Gestaltung von Parkanlagen. Er beschäftige sich gerade mit der Gestaltung eines Parks, in Zusammenarbeit mit einem Architekten —na ja, verbesserte er sich dann: so richtig Architekt ist er ja eigentlich nicht, vielmehr Schriftsteller—; es handele sich um ein Projekt, den Jardin du Luxembourg zu verschönern, das sie der Stadtverwaltung verkaufen und so mit diesem Projekt Geld verdienen wollten. Den Jardin du Luxembourg verschönern! Auf so eine Idee musste man wirklich erstmal kommen.

        Das mit dem Park erkläre ich dir später, jetzt machen wir erst mal ein Foto, was, Andre?

        Wir gingen zu einem Fotogeschäft in der Notre Dame de Lorette Straße. Das Schaufenster war voller Hochzeitsfotos und Kommunionsbilder in allen Größen.

        Als wir eintraten, bediente der Fotograf gerade ein junges Paar. Der Ladeninhaber trug eine Weste und hob beim Klingeln der Türglocke den Blick. Nachdem er Vaters eigenwilliges Erscheinungsbild kurz gemustert und dabei seine Brille mit einem widerwilligen Räuspern nach unten gezogen hatte, vertiefte er sich wieder in seine Arbeit.

        Bonjour, sagte Vater.

        Niemand antwortete.

        Der aufmerksame Blick des jungen Paares war auf die Hochzeitsfotos gerichtet.

        Wenn Sie uns die Portraits im Schaufenster ausstellen lassen, bekommen Sie einen Rabat. Bon... was halten Sie davon?

        Die beiden sahen sich an, stolz und verlegen zugleich.

        Unsere Portraits im Schaufenster? Vor aller Augen?

        Ich glaube nicht, dass es da Grund gibt, sich zu genieren. Es sind hervorragende Bilder. Sie sehen beide sehr gut aus. Fragen Sie doch mal Ihren Ehemann.

        Ja, ja, natürlich... Er hat recht, Liebes...

        Der Ehemann trug groben Breitkord. Er schien ein einfacher Mensch, der mit den Händen arbeitete, außerdem klebten Sägespäne unter seinen Schuhsohlen. Er wird vielleicht nicht einer von denen gewesen sein, die jeden Cent umdrehen mussten, aber war auch niemand, der mit seinem Kies einfach um sich werfen konnte.

        Rabatt ist Rabatt, Liebes...

        Also gut. Dann sollen sie es eben ausstellen.

        Der Fotograf lächelte. Dann nahm er das größte der Hochzeitsfotos des Paares und stellte es genau in die Mitte des Schaufensters.

        Das Paar zahlte, was es schuldig war und ging, die übrigen Hochzeitsfotos unter den Arm geklemmt. Der Mann warf einen verstohlenen Blick auf das Foto, das der Fotograf gerade in das Schaufenster des kleinen Fotogeschäfts in der Notre Dame de Lorette Straße gestellt hatte, als täte er sich unendlich schwer damit, sich selbst darauf wiederzuerkennen. Ich würde meinen Kopf verwetten, dass monatelang keiner der beiden, weder die Frau noch der Mann, durch diese Straße gingen, dass sie sich längere Umwege suchten, um im Vorübergehen nicht auf ihr Hochzeitsbild zu stoßen.

        Jetzt waren wir an der Reihe.

        Mein Sohn und ich hätten gern ein Foto von uns.

        Lustlos machte er vor dem falschen Hintergrund eines Eiffelturms aus Karton eine Aufnahme von uns. Am Anfang versuchte der Fotograf, mich zum lächeln zu bewegen, gab es dann aber sofort auf.

        In zwei Tagen kommen die Fotos aus dem Labor.

        Werden Sie unseres auch ins Schaufenster stellen?

        Ins Schaufenster, mein Herr?

        Der Westenträger tat, als verstünde er nicht.

        Vater und Sohn geben wohl nicht so viel her wie frisch Vermählte, was? Sie werden uns also keinen Rabatt geben? Sind wir etwa nicht fotogen genug oder was zum Teufel?

        Wie ich Ihnen gesagt habe, mein Herr: In zwei Tagen bekommen wir die Fotos vom Labor...

        Vater brauste immer gleich auf. Ich griff nach dem Ärmel seines zerfransten Pullovers und zog daran, wollte so schnell wie möglich von dort verschwinden.

        Es nutzte nichts. Vater packte ihn am Kragen, bis er ihn fast hinter der Ladentheke hervorzog. Er schwenkte den Fotografen durch die Luft, wie eine weggeworfene Puppe. Mitnichten hatte der Mann mit einem solch plötzlichen Angriff gerechnet. Es hatte ihn völlig überrumpelt.

        Wir werden es ausstellen, mein Herr! Wir werden es im Schaufenster Ausstellen! Ich werde Ihnen einen Rabatt machen! Es gibt keinen Grund, sich so aufzuregen!

        Vater klopfte den Ärmel seiner über und über mit Flicken besetzten Jacke ab und ging auf die Strasse, der Knall der Türe übertönte das Klingeln der Glöckchen. Ich rannte hinter ihm her. Die Frischvermählten lächelten uns von dem Foto im Schaufenster zu.

        In Montmartre gibt es auch Porträtisten! Die zeichnen die Portraits mit

Kohle... Du wirst sehen, wie toll das ist, was für ein Unterschied!

        Sofort wurde mir klar, dieser Tag würde kein gutes Ende nehmen.

        Was es hieß, mit Vater Peinlichkeiten und heikle Situationen zu erleben, hatte ich schon vor langem gelernt, an jenem Tag, als ich auf dem Weg zur Schule sah, wie er in einen dieser Kühlwagen stieg, die im Be- und Entladebereich vor dem Markt standen, und mit einem Messer heimlich von einem der dort an Fleischerhaken hängenden, gehäuteten Kälber Stücke abschnitt. Aber das war eben nicht alles. Da waren seine unglaublichen Geschichten. Seine nicht nachzuvollziehenden und unvorstellbaren Jobs. Nachts zu später Stunde zu zählen, wie viele Menschen er mit dem Knattern des Motorrads aufweckte. Parks zu verschönern. Seine Lügen, denke ich heute. Seine wunderbaren Lügen.

        Und jetzt, mein Sohn, unser Projekt für den Jardin du Luxembourg: Wir werden den Parisern zeigen, wie man einen Tango tanzt. Was hälst du davon? Die haben vom Tanzen nicht den geringsten Schimmer!

        Vater zeigte auf ein frisch mit Zement ausgegossenes Stück Gehweg. Wie ein Bär, der sein Junges auf den Arm nimmt, hob er mich hoch und lenkte seine Schritte in diese Richtung, mit einer Geschwindigkeit, die mit mir dort in den Lüften tollpatschig wirkte, versenkte er die Schuhe in dem frischen Zement und zeichnete auf die weiche Masse so etwas wie einen Tanz.

        Wenn ich nicht dabei gewesen wäre, hätten der Gendarm und die beiden Bauarbeiter Vater mit größtem Vergnügen verprügelt. Als sie seine Ausweispapiere verlangten, zog er stolz seinen argentinischen Pass heraus.

        Tja, ich war dabei, meinem Sohn zu zeigen, welchen Plan Julio und ich für den Luxemburg-Park haben... Darf denn ein Vater gar nichts tun, um bei seinem Kind Begeisterung zu wecken?

        Sie hielten ihn für verrückt. Mitleid wurde in ihnen wach. Oder Bedauern. Oder vielleicht beides zusammen. In den schwarzen Augen der Arbeiter und den blauen Augen des Gendarmen konnte ich das Bild des Waisenhauses sehen, das sie für mich vorausahnten.

        Du hast gesehen, was ich getan habe, nicht wahr, mein Sohn? Hast du es gesehen? Ich habe in dem Zement mein Zeichen hinterlassen, einen Tango! Auch ohne Tango tanzen zu können, braucht man jetzt nur die Spuren meiner Schuhe entlang zu hüpfen und einfach meinen Schritten folgen und ganz unwillkürlich Tango zu tanzen! Verstehst du das? Ist das nicht genial? Komm, ich will dir den Plan zeigen...

        Nachdem er auf dem Boulevard Saint Michel mit einer langbeinigen Frau einen langen Flirt versucht und ihre Telefonnummer auf meiner Hand notiert hatte —der Kugelschreiber schrieb nicht auf seiner Haut— fiel ihm der Plan wieder ein. Es war eine Zeichnung mit Fettflecken auf zerknittertem Packpapier.

        Also, mein Sohn, es geht darum, die Tangoschritte zu zeichnen: die der Frauen in rot und die des Mannes in weiß. Siehst du? Das ist alles! Ein tanzendes Frankreich wird immer glücklich sein, verstehst du? Nicht dass ich etwa die Franzis besonders lieben würde, aber na ja! Irgendwer muss es ihnen ja beibringen!

        Ob er wieder zu Mama zurückkehren werde, fragte ich ihn ohne große Hoffnung.

        Er wurde ernst. Dann setzte er mir ein langes Alibi auseinander, als hätte ich dies nicht schon hundert Mal gehört.

        Wenn du dich verliebst, blickst du dem Mädchen in die Augen und in ihren Augen siehst du sie, verstehst du? Da steht das Mädchen, auf beiden Beinen, du kannst mit ihr spazieren gehen, huevón... Aber dann blickst du ihr in die Augen und da siehst du sie, ihren ganzen Körper siehst du in ihren Augen, verstehst du? Du blickst ihr in die Augen und dort ist sie, tanzt, in ihren Augen! Es ist wie die Heilige Dreifaltigkeit, oder zumindest doch Zweifaltigkeit: Du siehst sie auf beiden Beinen stehend, aber gleichzeitig in ihren Augen... Doch dann kommt ein Moment, in dem die Person, die du liebst, aus den Augen verschwindet, verstehst du? Das ist mir mit deiner Mutter passiert. Sie hat sich versteckt, ist aus ihren Augen geflohen. Ich habe sie angesehen und da lebte deine Mutter nicht mehr voll und ganz in ihren Augen, so lächelnd und beschwingt wie früher.

        Vielleicht, weil ich mein Nichts-Verstanden-Gesicht aufsetzte oder weil aus meinem Mund Dampf emporstieg, nahm Vater plötzlich die Jacke, die er unter dem Arm trug und warf sie mir zu. Fast wäre sie mir auf den Boden gefallen, gerade noch fing ich diesen nach Tabak stinkenden Klumpen Jacke mit den Händen auf. Verwundert schaute ich ihn an.

        Was spürst du? Eine Jacke, nicht wahr? Eine Jacke und ihr Geruch. Aber das ist keine Umarmung, oder? Das ist nicht dasselbe. Es ist nicht wie eine Umarmung von deinem Vater... Die Jacke ist leer, oder? Nun, genau das habe ich gespürt, wenn ich deine Mutter umarmte.

        Im Cirque d´Hiver fand ein Boxkampf statt. Dort verbrachten wir den Nachmittag. Im Cirque d'Hiver war auch Vaters bärtiger Freund, Julio, der, der in Vaters Worten fast ein Architekt war. Er teilte wohl die Idee der Verschönerung des Luxemburg-Parkes mit ihm, weil der Luxemburg-Park zu ernst sei, beide waren sich darin einig, dass man die Tangoschritte auf den Boden zeichnen und die Leute zum Tanzen bringen musste.

        ¡Mirá que compañía tan rebuena! ¡El argentino tímido!

        Wie Vater sagte, war Julio der einzige schüchterne Argentinier, den er kannte. Mir schoss durch den Kopf, dass auch ich ein schüchterner Argentinier hätte werden können. Leider war ich aber kein Argentinier.

        Der bärtige Julio hatte eine auffallende Taschenuhr. Von Zeit zu Zeit sah er auf die Uhr und beim Schließen des Deckels schien es, als ob er auch seine Augen in der Uhr verwahrte. Er war wirklich sehr groß. Er überragte Vater um einen ganzen Kopf. Julio zahlte alle Runden, aber wenn ich die ganze Wahrheit sagen soll, trank er selbst nicht einmal halb soviel wie Vater. Mir hatte er bei einem Straßenverkäufer eine Tüte Maronen gekauft. Julio sah mich nicht mitleidig an, auch nicht mit Bedauern, wenn er mich ansah, tauchte in seinen Augen nicht jedes Mal ein Waisenhaus auf. Er betrachtete mich, als ob ihm mein Gesicht etwas Lustiges offenbarte. In dem Bistro Le chien qui fume verabschiedeten wir uns. Vater trank noch zwei weitere Bier, während er den Kommentar zu dem Wettkampf dieses Nachmittags alleine von sich gab.

        Ich bin ein Boxer, im Schein einer Laterne! Siehst du, Andre? Alle sind wir einsame Boxer im Schein einsamer Laternen! Schreib dir das hinter die Ohren!

        Er schwankte jetzt beim Laufen.

        Sein Freund, dieser Julio, der fast ein Architekt war, sei ein Schriftsteller, erklärte er mir erneut, ein sehr großer Schriftsteller. Eines Tages würde ich seine Bücher lesen.

        Trotzdem... Mehr Kies als seine Literatur und die ganze pavada wird Julio die Idee mit dem Tango im Luxemburg-Park einbringen, da kannst du sicher sein.

        Wichtigtuerisch und laut tat er das kund. Glaubte Vater wirklich, was er da erzählte?

        Aber hör nur nicht auf deinen Vater. Du musst ein Studium machen. Hier zum Beispiel, mein Sohn: À la Sorbonne... À la Sorbonne!

        In einem Kino im Quartier Latin gab es einen Film der Marx Brothers über ein Pferderennen, den wollte ich sehen. Aber Vater war Kino vollkommen gleich: Er hatte sich darauf versteift, über die Sorbonne zu reden. Und wenn Vater sich auf etwas versteifte, war da nichts zu machen. Bevor wir nach Hause gingen, blieb er vor der Sorbonne stehen und betrachtete sie, als sei sie ein griechischer Tempel.

        Das ist sie, mein Sohn... La Sorbonne! Ist sie nicht herrlich?

        Ich sah nichts als ein riesiges Haus. Ein steinerner Palast, wie es in Paris hunderte anderer gab. Ich wusste nicht, was la Sorbonne war, aber Vater wollte, dass ich dorthin ging, das war klar.

        Dort wirst du eines Tages studieren, mein Sohn. Dort wirst du studieren, huevón!

        In diesem Moment bekam er diesen Nostalgie-Melancholie-Tango-Blick, auch wenn ich damals noch nicht wusste, was die Nostalgie-Melancholie-Tango Blicke und diese ganze huevada bedeuteten.

        Und dann sagte er diesen Satz, den ich niemals vergessen werde. Wenn ein Vater nicht richtig weiß, was er seinem Sohn hinterlassen soll, vererben einige ihre mangelhafte genetische Erbmasse und ihre Manien, ihre Gesten und Veranlagung zu Asthma oder Epilepsie oder ihre Bibliothek, einen zu nichts zu gebrauchenden, abgenutzten Pass, Häuser, die Landbesitzer vererben riesige Ländereien, oder Schulden, oder eine Bürde, wegen der man sich über bestimmte Probleme zu viele Gedanken machen muss, oder eine Gunst, wegen der man sich um einige andere Probleme viel zu wenig kümmert. Oder diese moralistischen Väter, die die kleinen Söhne auf den Schoß nehmen und ihnen das eine oder andere über Moral erzählen, sie hinterlassen ihnen eine Lebensphilosophie, die pragmatischsten Väter vererben vielleicht einen Beruf, es gibt ellenlange Sagen über Tischler, die ihre Arbeit von den Eltern erlernten und an die Kinder weitergaben, von Generation zu Generation. Oder möglicherweise betrachten wir die ganze Angelegenheit auch einfach falsch: Eltern sind nichts als eine Silhouette und die Kinder schlüpfen in die von den Eltern hinterlassenen Silhouetten, in die Löcher, bewusst oder unbewusst. Der Sohn, der erkennt, dass die Ähnlichkeit mit seinem Vater in seinem Gesicht immer größer wird, nimmt ganz langsam die Silhouette des Vaters an, erlebt dieses unabwendbare Schicksal als eine Art Verrat, taucht resigniert in das Kielwasser des Vaters ein, dessen Verantwortung dafür sprüht ihm aus den Augen, wenn er im Spiegel des Hotels sein Gesicht betrachtet, doch selbst wenn er fliehen will, am Ende erfolgt die Fleischwerdung des Sohns in den von dem Vater zurückgelassenen Spuren und Gespenstern. Es gibt keinen anderen Ausweg für ihn.

        Ich weiß nicht.

        Mich auf jeden Fall lehrte mein Vater keinen Beruf. Er vererbte mir keine Bibliothek. Seine Art zu reden habe ich lange Jahre lang völlig zu verdrängen versucht, kastillisch spreche ich auch kaum. Was mir mein Vater hinterließ war vor allem jener Augenblick: der verrückte Einfall mit der Verschönerung des Jardin du Luxembourg und eine Silhouette, wir beide, den Blick auf die Sorbonne gerichtet, als betrachteten wir einen verschneiten kanadischen Wald oder einen Gladiatorenkampf in Rom.

        Seit vielen Jahren habe ich Vater nicht mehr gesehen. Als ich heute in der Zeitung las, dass die Trauerfeier von Julio Cortazar am Nachmittag stattfinden würde, schwankte ich, ob ich mich in die U-Bahn nach Montparnasse setzen sollte oder nicht. Wenn er noch am Leben war, würde Vater auf dieser Beerdigung sein und auf dem frischen Zement des Grabes von Julio einen Tango tanzen.

        La Sorbonne.

        Dort wirst du eines Tages studieren, mein Sohn.

        Und ich stand da, ohne ein Wort zu begreifen, betrachtete die Mütter und Töchter, Väter und Söhne die ins Kino gingen, voller Neid und bibbernd vor Kälte.

        Pferderennen im Kino? Ich nehme dich am Sonntag zur Pferderennbahn mit, mein Junge! Pferde muss man auf der Rennbahn ansehen!

        Und vor allem, was er dann sagte, jene Anti-Erbschaftserklärung, mit dem besorgten Gesicht eines Töpfers, eines Anfängers in seinem Handwerk, der zum ersten Mal die Töpfe und Tiegel, die er selbst geformt hat, aus der Hand gibt und in den Brennofen schiebt, voller Angst, sie könnten zerbrechen gab er diese Erklärung ab, plötzlich war gar nicht mehr so betrunken und hatte ein Leuchten in den Augen, als habe es eine Frau entzündet, die nicht meine Mutter war, und als blicke er auf ein wichtiges Ziel: Mal sehen, ob wir es schaffen, dass du nicht wirst wie ich, Andre.

        Mal sehen, ob wir es schaffen, dass du nicht wirst wie ich.

        Eine ebenso hervorragende wie unmögliche Idee.

        Wann bin ich in die Silhouette meines Vaters geschlüpft? Wann knüpfte ich an seinen Pathetik und seinen Drang zu altern an? Vielleicht an jenem Tag, als wir nach dem Cirque d´Hiver und dem Le chien qui fume wie immer zu spät zu Hause ankamen und Mutter mir mit Seifenwasser die Flirt-Telefonnummer abschruppte, die Vater mit blauem Kugelschreiber auf meinen Arm geschrieben hatte?

        In der U-Bahn ziehe ich meine Jacke aus und gebe sie einem Clochard. Dann nehme ich die Stellung eines Torwarts beim Fußball ein, die Beine breit, den Oberkörper vorgebeugt, die Hände auf den Knien, die Hose herunter ziehend, diesmal ohne jede Angst, dass man meine Strümpfe mit dem Rautenmuster sehen könne. Verwundert betrachten uns die Passagiere der U-Bahn.

        Werfen Sie mir die Jacke zu, bitte! Tirez!

        Ich will jenen Moment in mir wachrufen, als ich in meinen Armen die Jacke auffing, die Vater in die Luft warf, als wir an jenem Tag stehen blieben, La Sorbonne neben uns. Ich will die leere Jacke umarmen, mich der leeren Umarmung eines Gespenstes erinnern, dessen, was Vater wohl fühlte, wenn er Mutter umarmte.

        Als sich an der Haltestelle Jussieu die Türen der U-Bahn öffnen, rennt der Clochard davon, mitsamt der Jacke. Keine Ahnung hat er davon, dass das, was er da unter seinem Arm für eine Jacke hält, die letzte Umarmung meines Vaters ist, die er mit sich fortträgt.

        Der Winter wird lang werden. Länger noch der Winter, der sich im Winter versteckt.

 

 

© Harkaitz Cano
© Übersetzung aus dem Baskischen: Gabriele Schwab


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